Jeder Gamer kennt den Unterschied zwischen einem linearen Spiel und einem Open World Game. Beim ersten ist der Ablauf genau vorgegeben, beim zweiten musst du dir deinen Weg selbst suchen. Es gibt vielleicht bestimmte Stationen oder Plot-Points, die du abarbeiten solltest, aber letztendlich gibt es keinen einzig wahren oder richtigen Weg dafür. Letztendlich musst du vor allem rumprobieren und wirst dabei ziemlich oft auf die Schnauze fliegen. Du brauchst Kreativität, du brauchst Geduld und du brauchst Hartnäckigkeit. Aber genau das macht den Reiz eines solchen Spiels aus.
Das Lesen funktioniert linear. Du schlägst ein Buch auf, beginnst mit dem Prolog oder dem ersten Kapitel und die Story führt dich Schritt für Schritt voran. Du lernst die Charaktere kennen, gehst mit ihnen auf die Reise, fühlst ihren Schmerz, wenn sie scheitern und ihre Freude, wenn sie Erfolg haben. Im Laufe der Zeit werden sie zu deinen Freunden und Vertrauten. Du siehst die Welt durch ihre Augen und am Ende fällt es dir schwer, von ihnen Abschied zu nehmen.
Viele Menschen glauben, ein Buch zu schreiben, funktioniert genauso linear. Du fängst mit dem ersten Kapitel an, dann kommt das zweite und dann das dritte. Das kann tatsächlich funktionieren, aber die meisten Autoren stellen spätestens beim dritten oder vierten Kapitel fest, dass es irgendwo hängt. Entweder passt die Story nicht mehr zusammen oder die Charaktere entwickeln sich in eine Richtung, die du nicht erwartet hättest. Manchmal weißt du auch einfach nicht, wie du weiterschreiben sollst, weil du keine Ideen mehr hast.
An dieser Stelle kann dir ein Schreibkurs oder ein Schreibratgeber helfen. Das könnte so ähnlich funktionieren wie ein Let‘s Player auf Youtube oder Twitch. Er spielt dir das Spiel vor und du spielst es Schritt für Schritt nach.
Jeder Autor, der schon einmal ein Buch geschrieben hat, könnte theoretisch auch einen Schreibratgeber verfassen, in dem er seine einzelnen Schritte von der ersten Idee bis zum fertigen Roman nachverfolgt und erklärt. Und viele tun das auch. Deshalb gibt‘s Hunderte von Ratgebern auf dem Markt. Wenn du im Netz oder in Buchläden danach suchst, wirst du von der Fülle überwältigt sein. Und vielleicht fragst du dich dann, welche dieser Ratgeber „gut“ und welche „schlecht“ sind.
Was hältst du von einem Spiel? Ich stelle dir mal ein paar erfundene Schreibratgeber vor und du verrätst mir, welche Autoren sie geschrieben haben könnten. (Kleiner Tipp: jeder dieser Autoren hat schon einen Bestseller veröffentlicht)
Schreibratgeber Nr. 1
„Zu Beginn kreierst du mindestens zehn verschiedene Sprachen mit einem verwendbaren Wortschatz und einer kompletten Grammatik dazu. Basierend auf diesen Sprachen erschaffst du dazu passende Völker. Für diese Völker schreibst du jeweils eine eigene Kultur und eine geschichtliche Entwicklung von mehreren tausend Jahren. Du studierst verschiedene Mythologien und leihst dir daraus Elemente für den Schöpfungsmythos deiner Welt. Es schadet auch nicht, wenn du dich mit Geographie, Geschichte und klassischer Literatur beschäftigst. Und Pfeifenkraut. Pfeifenkraut ist wichtig.
Und dann, nachdem du dich etwa zwanzig Jahre lang mit World-Building beschäftigt hast, könntest du langsam daran denken, einen Plot zu basteln.“
Schreibratgeber Nr. 2
Als erstes gehst du zum Bahnhof (am besten King’s Cross) und setzt dich in einen Zug.
Und wenn du im Abteil sitzt und deinen Gedanken nachhängst, während die Landschaft an dir vorbeizieht, wird in deinem Kopf der Held deines Buches auftauchen. Du wirst instinktiv wissen, wie er heißt und vor deinem geistigen Auge sehen, wie er aussieht.
Und dann wird er anfangen, dir seine Geschichte zu erzählen. Nicht alles auf einmal, sondern in kleinen Abschnitten und meistens dann, wenn du es am wenigsten erwartest und eigentlich keine Zeit dafür hast.
Deshalb sollten überall in deiner Wohnung Zettel herumliegen, damit du dir jede Idee gleich notieren kannst, wenn sie kommt.
Schreibratgeber Nr.3
Lies Herr der Ringe. Guck Star Wars. Schmeiß es zusammen.
Dann brauchst du noch Drachen und ein logisches Magiesystem. Das Allerwichtigste an einem Buch ist ein logisches Magiesystem, sonst könnte dein Held den Bösewicht mit einer Ballista von hinten erstechen.
Schreibratgeber Nr.4
Wenn du ein junges Mädchen bist – und nicht einmal zwanzig Jahre alt – werden dir viele Ältere, insbesondere ältere Männer sagen, dass du weder das Talent noch die geistigen Fähigkeiten hast, um ein gutes Buch zu schreiben. Das sollte dich aber niemals entmutigen, weiterzumachen. Inspiration findest du überall, in der Literatur, in deiner Umgebung und im Verhalten der Menschen. Ganz besonders im Verhalten der Menschen.
Eigentlich wollte ich ja nur eine Geistergeschichte schreiben - und jetzt machen sie daraus Zombiefilme.
Schreibratgeber Nr.5
Schreibe eine Fanfiction zu Twilight, aber nenn die Charaktere anders. Und google mal „Sklavenvertrag“.
So, und jetzt bin ich sehr gespannt auf deine Antworten. ^^
Jeder Autor hat eine andere völlig andere Herangehensweise ans Schreiben, andere Techniken, ein anderes Mindset. Somit ist auch jeder Schreibratgeber unterschiedlich und es ist (fast) nicht möglich, eine objektive Wertung im Sinne von besser oder schlechter zu treffen. Mit ziemlicher Sicherheit findest du in jedem Ratgeber sowohl nützliche Tipps, als auch Methoden, die für dich gar nicht funktionieren.
Und das ist okay. Du kannst das Spiel eben nicht 1:1 nachspielen, du musst deinen eigenen Weg finden. Eine Methode, die für alle genau gleich funktioniert, gibt‘s nicht. Weil wir nun mal alle unterschiedlich sind.
Manche Autoren brauchen Musik zur Inspiration, andere können die Geräuschkulisse nicht ab. Manche schreiben besser mit der Hand, andere am PC. Manche sind eher Kopfschreiber, auch Architekten genannt, andere sind Bauchschreiber oder Gärtner.
Auch die Motivation der Menschen ist ganz unterschiedlich. Die einen wollen sich als erstes informieren wie „der Markt“ aussieht, damit sich das Buch auch verkauft. Andere wollen sich selbst verwirklichen oder der Welt etwas Wichtiges mitteilen.
Was ist deine Motivation? Warum schreibst du oder möchtest du schreiben?
Sehr viele Menschen, selbst erfahrene Autoren, machen den Fehler, an den einzig wahren Weg zu glauben. Sie werden wütend auf sich selbst, weil etwas nicht so funktioniert wie es soll und sie halten sich deshalb für unfähig. Selbstzweifel can be a bitch!
Oder sie werden ungeduldig mit anderen, weil sie einfach nicht verstehen, das etwas, was bei ihnen wunderbar funktioniert, beim anderen so gar nicht klappt. Manche werden deshalb arrogant oder fangen mit anderen Autoren Streit an. Weißt du, wenn ein Mensch im Rollstuhl sitzt, wird niemand von ihm verlangen, dass er eine Treppe hinaufgeht, aber den Rollstuhl kann man sehen. Unterschiedliche Verknüpfungen von Nerven im Gehirn kann man aber nicht sehen. Das merkt man ja schon daran, wenn wir über Bücher (und Filme) von anderen diskutieren. Warum sollten wir also alle gleich ticken, wenn wir selbst welche schreiben?
Aber wenn du diese einfache Erkenntnis einmal gewonnen hast, macht das vieles für dich leichter. Du wirst dich nicht mehr so oft fragen, was mit dir nicht stimmt, wenn etwas nicht so klappt, wie es soll. Stattdessen probierst du lieber mal andere Möglichkeiten aus oder du beißt die Zähne zusammen und versuchst trotzdem, dich durchzukämpfen. Wie ich am Anfang schon sagte, du brauchst Kreativität, du brauchst Geduld, du brauchst Hartnäckigkeit. Das erste Buch ist immer das Schwerste.
Zum Abschluss dieses Artikels noch ein paar kleine Tipps:
1. Lies viel. Ich weiß, das erzählt dir so ziemlich jeder, aber es ist einfach wahr. Durchs Lesen kriegst du raus wie Bücher funktionieren und mit welchen Tricks und Techniken sie die Leser in ihren Bann ziehen.
2. Analysiere das was du liest (und anschaust). Ich erinnere mich noch gut an den Kulturschock als ich, ein Stöpsel von acht Jahren, meinen ersten Star Wars Film (Episode 5) guckte. Klein Yama war fassungslos: „Wieso verliebt sie sich in den? Das ist doch nur der Nebenheld.“ Immerhin kam ich dann zwanzig Jahre später darauf klar, dass Hermione mit Ron zusammenkam und habe nicht, wie so viele andere Fans, heulend mein Buch in die Ecke gepfeffert. Ja, manchmal verliebt sich das Mädel halt in den Sidekick. Manchmal sogar in den Mentor. We need to get over it.
3. Probier aus. Ganz viel. Am besten alles. Wenn du nicht weißt, ob du dein Buch im Third Person Deep POV schreiben willst oder doch lieber einen auktorialen Ich-Erzähler verwenden möchtest, dann such dir doch einfach eine Szene aus und schreib sie zweimal! Glaub mir, es ist hilfreicher als jede theoretische Überlegung, wenn du zwei fertige Szenen miteinander vergleichen kannst.
Oh, und falls dich der Deep POV oder wahlweise der auktoriale Ich-Erzähler jetzt verwirren, dann mach‘ dir keinen Kopf, dazu kommen wir noch in späteren Artikeln. Wir quatschen über Perspektivenmodelle ebenso wie über Plotstrukturen oder mögliche Funktionen von Charakteren. Du darfst mir gern Vorschläge machen, welche Themen dich besonders interessieren.
Aber genug Theorie für heute. Geh schreiben!
Dein Yama
Hey, ich bin Yama.
Freut mich sehr, dass du hier bist!
Ich bin auf Anime-Cons und Comicmessen mit meinem Showprogramm unterwegs.
Ich gebe Schreibworkshops und leite die Autorengruppe Word & Shield.
Ich lektoriere Bücher und arbeite an meinem ersten Roman.
Diese Webseite wurde mit Jimdo erstellt! Jetzt kostenlos registrieren auf https://de.jimdo.com